Dienstag, 1. September 2009

Volker König:
Kirchgang

Tatort: Bottrop

»Ich habe doch alle Lichter gelöscht, Kätchen?«
Natürlich hat er das, obwohl ihr gerade heute nicht danach zumute war; sie hätte lieber den Lichterbogen im Fenster leuchten lassen, denn dann konnten die Nachbarn zumindest glauben, dass ihre Wohnung auch heute belebt ist.
Wenn er sie doch nicht immer Kätchen nennen würde. Sie fühlt sich dann klein, weil auch ihre Mutter sie so genannt hatte. Löwen werden zu Kätzchen, wenn man es ihnen nur oft genug sagt. Dabei weiß sie, dass er eigentlich nicht sie meint. Er sagt es, weil er glaubt, es gehöre dazu.
»Ich finde, so ein Spaziergang nach fettem Essen tut gut.«
Er liebt fettes Essen. Die Gans, für die sie stundenlang in der Küche gestanden hatte, hatte er sich in seinen breiten Mund geschaufelt. Ohne ein Wort, ohne eine Geste, nur gierig, dazu mit einem Auge beim Fernseher, der ihnen Weihnachtsklänge in die Stube trug. Auch die liebt er. Weihnachtsklänge. Weiß der Himmel warum ausgerechnet die.
Danach seine Leberkapseln, die sie wie immer für ihn bereitgehalten hat. Auch die hatte er gierig und hastig hineingeworfen. Ohne die würde er das fette Essen nicht vertragen. Ohne die würde sein Blutdruck zu stark ansteigen. Ohne die würde er gar nicht mehr leben.
Sie zieht sich den Schal enger um den Hals und vergräbt ihre Hände samt Handschuhen in den Manteltaschen. So folgt sie ihm, etwas versetzt, mit ein wenig Abstand, mühsam.
Denn er schreitet kräftig aus, macht viel größere Schritte als sie und merkt so nicht, wie sie zurückfällt. Bald wird er irgendwo stehen bleiben, dann kann sie aufschließen, aber darauf wartet er nicht. Er läuft immer schon weiter, wenn sie ihn fast erreicht hat.
Es kommt ihr oft vor, als sei er ein großer Hund, der seinem Herrchen vorausläuft, bis er etwas Interessantes gefunden hat, um es zu beschnuppern. Aber sie ist nicht sein Herrchen. Sie ist nur seine Frau. Für ihn ist sie der Hund.

weiter in: Hängen im Schacht

Der Autor: Volker König, geboren 1965 in Dortmund, ist Diplom-Biologe und Autor. 2007 veröffentlichte er mit »Tantenfieber« die spannende und skurrile Geschichte eines extrem kurzsichtigen Spießers, sowie seinen Erzählband »Dicke Enden«. Zuletzt erschien von ihm die Novelle »Die Farbe des Kraken« (2009).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen