Tatort: Mülheim an der Ruhr
Die Mülheimer Papenbuschsiedlung ist nicht besonders groß, mit dem Wagen hat man sie über die Mühlenstraße oder dem Zehntweg in fünf Minuten passiert. Erst dem Fußgänger offenbart sich das versponnene Netz der Straßen und Sträßchen zwischen Martinstraße und dem Springweg, in dem sich selbst langjährige Anwohner nicht immer auf Anhieb zurechtfanden.
Rudi Dagel durchwanderte dieses Labyrinth seit zwei Wochen täglich. Anfangs hatte er sich immer wieder verlaufen, und hätte Justus Alt, der Regisseur der Freilichtbühne, nicht Stein und Bein geschworen, ihn hier schon zwei Mal gesehen zu haben, wäre für Dagel sicherlich eine andere Art der Freizeitgestaltung in Frage gekommen.
Seine Laune korrespondierte mittlerweile ausgezeichnet mit dem penetranten Dauerregen, den der Wetterfrosch des WDR gestern Abend heiter als »strichweise Regen« angekündigt hatte.
In den letzten Tropfen eines dieses strichweisen Regens erreichte Rudi Dagel den lang gezogenen Weg, der parallel oberhalb der Mühlenstraße verlief. Die Aussicht, weitere zwei Stunden und mindestens noch einen Regenstrich lang durch das Viertel zu wandern, ließ seine Stimmung auf den Nullpunkt sinken. Doch dann, während Dagel mit seinem inneren Schweinehund noch in knallharten Verhandlungen über »aufgeben« und »weitermachen« stand, erfasste sein Blick im düsteren Grau des strichweisen Regens einen älteren Herrn, der äußerst konzentriert in einem städtischen Abfalleimer wühlte und schließlich eine Pfandflasche ans trübe Tageslicht beförderte. Die signalgelbe Regenjacke des Alten hatte ihre besten Tage längst hinter sich, war an vielen Stellen eingerissen und verschmutzt. Als ihre Blicke sich Sekunden später trafen, war Dagel sicher. Diese murmelgroßen, zurückliegenden Pupillen, dieses unverwechselbare ozeanblaue Leuchten …
weiter in: Hängen im Schacht
Der Autor:
Erwin Kohl, geboren in Alpen am Niederrhein, ist durch Nebentätigkeiten als Taxifahrer, Friedhofsgärtner und Partnervermittler mit den Abgründen der menschlichen Psyche vertraut. Als Ausgleich zur eher spannungsarmen Tätigkeit als Beamter schrieb er 2002 seinen ersten Roman, es folgten bislang sechs Krimis, zuletzt »Die Motte« (2009)
Geschlossen
vor 11 Jahren
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