Tatort: Sprockhövel »Darf’s ein bisschen mehr sein?« »Ach ja … so eine Scheibe Sülze ist doch schnell verputzt, nicht wahr?«, flötet Frau Schreiber. Flöt, flöt, flöt … seit ich zum ersten Mal hinter dieser Theke gestanden habe - im zarten Alter von sieben Jahren ungefähr - begleitet die Schreiber jeden ihrer Sätze mit einem Flöten. Und jetzt bin ich neunzehn, und immer noch flöt … flöt. Ich weiß nicht, was passieren muss, um ihr diese hochgezogenen Mundwinkel, die aufgerissenen Augen und den schrillen Ton endlich aus dem Gesicht zu wischen. Die anderen in der Schlange hüsteln schon und gucken verlegen auf den blitzblanken, weißen Kachelfußboden. Ich lächele zurück, knalle ihr noch eine dicke Scheibe Sülze auf die Waage und packe sie dann zu ihrer Blutwurst und dem Braten in eine Plastiktüte. »Macht sechzehnfünfzig.« Die Schreiber gibt mir einen Zwanziger und ich gebe ihr extra in vielen kleinen Münzen raus. Wenn die schon nicht selber platzt, dann wenigstens ihre Geldbörse. Mittlerweile ist die Warteschlange noch länger geworden. Keiner will es sich entgehen lassen, die trauernden Waisenkinder zu begaffen, die so tapfer ihr Erbe antreten, kaum dass ihre Eltern unter der Erde sind. Wir hatten das so abgemacht, mein Bruder und ich. Wir machen das Geschäft sofort wieder auf, hatten wir beschlossen. Von irgendwas müssen wir ja leben, wenn unsere Erzeuger mit ihrem Auto vor einen Baum gekracht sein werden. Wir sind schließlich die Traditionsmetzgerei im Ort und bevor unsere Stammkundschaft woanders einkauft, riskieren wir lieber, herzlos dazustehen, als ohne Einkommen. Also Freitag Beerdigung in aller Stille, ohne Gaffer und Kuchenabstauber, Samstag geöffnet. Womit ich nicht gerechnet hatte war, dass wir mit der Wiedereröffnung von Grigoleit - Wurst und Fleischwaren seit 1911 unser Ansehen auf einen Schlag verbessert haben. Plötzlich sind wir die Tapferen. Die Fleißigen. Uns wird auf die Schulter geklopft, man nickt uns aufmunternd zu, und einige hatten sich heute Früh, mitten auf der Straße, als mein Bruder den Kühlwagen entlud, zu einem: »Ach, Kinder! Eure Eltern wären stolz«, hinreißen lassen. Ha, ha, kann ich dazu nur sagen. weiter in: Hängen im Schacht
Die Autorin: Edda Minck, stammt aus Bochum und hat mehr als 20 Jahre für Film und Fernsehen gearbeitet. Heute ist sie als freiberufliche Autorin tätig und veröffentlichte zuletzt mit ihrer Kollegin Lotte Minck, mit der sie weder verwandt, noch verschwägert ist, die erfolgreichen Maggie Abendroth-Krimis »totgepflegt« (2007), »abgemurkst« (2008) und »umgenietet« (2009). Zuletzt erschien von Edda Minck »Für kein Geld der Welt« (2009).
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