Dienstag, 1. September 2009

Mischa Bach:
Asphaltgeflüster

Tatort: Essen Innenstadt, Westviertel

Asphaltgeflüster – was hören Sie, wenn Sie »Asphaltgeflüster« hören? Ich höre nichts. Ich höre nie etwas. Ich bin Antiton. Das bedeutet mein Gebärdenname: Die Hand, aufrecht bis auf den um 90 Grad abgewinkelten Mittelfinger, schnellt Richtung Ohr, um sich anschließend mit ausgestrecktem Zeigefinger genauso rasch wieder von diesem meinem toten Organ zu entfernen.
Asphaltgeflüster – für mich hat das etwas Magisches und es kann vielerlei bedeuten: Manchmal ist es das metallische Flirren heißer Luft über der sommerlichen Fahrbahn oder der Tanz der Blätter im Herbst, die der Wind vor sich her treibt. Dann wieder ist es die Vibration der Autos, Motorräder und Lastwagen, die über eine Straße donnern, auf der ich als Kind am liebsten mit nackten Füßen stand.
Ich weiß nicht, wie sich das Wort anhört und ich habe in keinem Gebärdenlexikon einen Hinweis gefunden, wie es zu gebärden ist. Meine eigene Gebärde variiert – mal ist es eine Straße, dann wieder eine gerade Fläche, die von mir wegführt, bevor meine Fingerspitzen trippelnd, tanzend, wie kleine Wellen zurück zu mir kommen.
In welcher Form auch immer - Dante fand, das passe exakt zu der dritten Bedeutung, die Asphaltgeflüster für ihn wie für mich hat: nämlich die Botschaften der Straße selbst. Wenn du auf der Straße lebst, hör ihr zu, schau hin, sei aufmerksam. Sie führt dich zu sicheren Schlafplätzen und warnt dich vor Gefahren. Wenn du bereit bist für die Botschaften, die dir der Asphalt zuflüstert.
Als ich Dante zum ersten Mal begegnete, war ich taub und blind für Botschaften aller Art. Ich war 17, wusste nicht, wohin mit mir und war so auf der Straße gelandet. Verrückte Ironie des Schicksals – meine Mutter, gehörlos wie ich selbst, war Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Ein Lkw geriet auf einer Brücke außer Kontrolle, Sand verschmierte die Fahrbahn. Der Fahrer konnte die Zugmaschine abfangen, der Hänger jedoch löste sich, knickte das Geländer um wie nichts und stürzte auf den Fußgängerweg darunter. Meine Mutter hatte keine Chance.
Bis zu diesem Tag, siebzehn Jahre lang, hatte ich allein mit ihr gelebt. Es gab niemand sonst, keinen Vater, keine Großeltern, Tanten oder Onkel. Die paar entfernten Verwandten, die mit uns »Taubstummen« nichts zu schaffen haben wollten, zählten nicht. Mutter und ich hatten einander, und wir kamen prima zurecht. Sicher, es gab auch Streit. Gerade in der letzten Zeit, denn sie hatte gewollt, dass ich im Sommer nach Essen ging, an die Kollegschule in Frohnhausen, um Abitur zu machen. An sich war das richtig gedacht - es ist sonst nahezu unmöglich, in Gebärdensprache bis zum Abitur Unterricht zu erhalten – aber ich wollte nun mal nicht ins Internat.

weiter in: Hängen im Schacht

Die Autorin:
Mischa Bach
, geboren in Neuwied, lebt seit mehr als zehn Jahren in Essen. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Filmwissenschaften und schrieb Drehbücher unter anderem für »Polizeiruf 110«. Ihre Kriminalnovelle »Der Tod ist ein langer, trüber Fluss« brachte ihr 2005 eine Nominierung für den Friedrich Glauser-Preis in der Debut-Sparte ein, nachdem das Manuskript 2001 schon mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis ausgezeichnet worden war. Nach zahlreichen Kurzgeschichtenvon denen »Vollmond«" wurde für den Friedrich Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi nominiert wurde, erschien 2006 ihr zweites Buch »Stimmengewirr«. Diesmal hatte sie nicht nur den Text geschrieben, sondern auch das Bild für das Cover geliefert, denn die Malerei gehört ebenfalls zu ihren zahlreichen künstlerischen Aktivitäten. Zuletzt veröffentlichte sie den Kriminalroman »Rattes Gift« (2009).

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