Tatort: Gladbeck
Ulrich Hamms Herz raste – und das machte den 110-jährigen äußerst unruhig. Schließlich wusste keiner, wie lange die sieben Bypässe noch hielten. Er war nicht so unglaublich alt geworden, weil er seine Pumpe ständig auf Hochtouren laufen ließ. Vor allem jetzt, da das dumme Ding schwächelte. Sein Hausarzt gab ihm noch ein halbes Jahr. Doch der junge Weißkittel log ihn an, so was spürte Ulrich Hamm. Es würde deutlich weniger sein.
Er drückte zittrig auf den Knopf für die dritte Etage und der Aufzug machte sich auf den Weg nach oben. Ulrich Hamm atmete so tief durch, dass die Lunge rasselte. Er musste zur Tat schreiten, solange seine dürren rheumatischen Finger noch den Abzug der alten Selbstladepistole aus dem Ersten Weltkrieg ziehen konnten. Eine Mauser C96 mit sechs 9mm Parabellum-Patronen im Magazin. Die hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
Sein Opfer hieß Wilhelm Eberhard und lag in Zimmer 273 der noblen Gladbecker Seniorenresidenz. Ulrich Hamm wusste alles über ihn. Denn er hatte jeden Zeitungsbericht über den ältesten Mann Deutschlands ausgeschnitten, jeden Fernsehbeitrag über ihn auf VHS archiviert. Er selbst wohnte auf der Insel Föhr, wegen des Reizklimas. Das war gut für das Kreislaufsystem. Von dort wollte er eigentlich auch bis zu seinem Lebensende nicht mehr weg. Aber da Eberhard hier in Gladbeck lebte, hatte er diese beschwerliche Reise ins Ruhrgebiet antreten müssen. Dabei hätte Ulrich Hamm die Nummer 1 der Greisenliste niemals hier vermutet. Im schönen Bayern, ja, im ordentlichen Schwabenland, natürlich, oder im idyllischen Schwarzwald – aber doch nicht im Ruhrpott! Wo die Luft schlecht war und die Leute ein Leben lang malochten. Wie konnte man hier nur alt werden? Zu seiner Verwunderung hatte er gelesen, dass der Drittälteste Mann Deutschlands aus Bottrop stammte – ein junger Hüpfer von 108 Jahren. Wilhelm Eberhard hatte es mit seinen 113 auf Platz 1 geschafft. Der Mann musste die Konstitution eines Ackergauls haben. Oder eher von einer ganzen Herde von Ackergäulen.
Aber das würde ihm heute auch nichts helfen!
weiter in: Hängen im Schacht
Der Autor: Carsten Sebastian Henn, geboren in Köln, studierte Völkerkunde und Weinbau. Er lebt und arbeitet heute als Schriftsteller und Wein-Journalist in Hürth. 2002 erschien mit »In Vino Veritas« sein erster kulinarisch-vinophiler Krimi um den Ahrtaler Sternekoch und Hobbydetektiv Julius Eichendorff, dem bis 2008 vier weitere folgten, welche als Hörbücher gelesen von Jürgen von der Lippe erschienen sind. Zuletzt veröffentlichte der mehrfach ausgezeichnete Autor die piemontesischen Hundekrimis »Tod & Trüffel« sowie »Blut & Barolo«.
Geschlossen
vor 11 Jahren
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